St.Galler Tagblatt

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Diana Widmer, die Mutter des verstorbenen Benjamin, und sein Onkel Pascal Wapf vor der Graffitiwand in St. Gallen. Bild: Niklas Thalmann

Mirjam Bächtold Benjamin Widmer ist 14 Jahre alt, als er beschliesst, sein Leben zu beenden. In den Sprachnachrichten, die er seinen Eltern zum Abschied schickt, sagt er: «Es gibt schon einen anderen Weg, aber der ist komplizierter und den will ich nicht machen. Und weil ich halt der Minimalist bin, der ich bin, probiere ich es immer so einfach wie möglich.» Was hart klingt, war für ihn die logische Folge nach einem Abwägen zweier Möglichkeiten. Benjamin Widmer hatte hochfunktionalen Autismus, auch bekannt als Asperger.

Zum Welt-Autismus-Tag am 2. April erzählen seine Mutter und sein Onkel Benjamins Geschichte. Schon mit zwei Jahren kennt er Zahlen. Dass ihr Sohn kein gewöhnlicher Junge ist, merkt Diana Widmer schon früh. «Vor seinem dritten Geburtstag konnte er Zahlen und Buchstaben schreiben», sagt sie. Auf seinem Whiteboard habe er schon als Kind verschiedene Schriftarten ausprobiert. Später beginnt er, Programmiercodes von Hand aufzuschreiben. «Er hatte ein unglaubliches räumliches Vorstellungsvermögen.»

Als Einzelkind ist er es gewohnt, sich selbst zu beschäftigen. «Er war sehr kreativ und erfand Spiele mit Alltagsgegenständen wie Tupperware und Kabeln. Und er sagte, in der Spielgruppe gebe es ja nichts zu spielen», erzählt seine Mutter und lächelt bei der Erinnerung. Das Zeichnen war sein «Stimming», also seine Taktik, um sich zu beruhigen. Einige Autistinnen und Autisten wippen mit dem Körper hin und her, andere brauchen etwas, um ihre Hände zu beschäftigen. Für Benjamin Widmer ist es das Zeichnen. «Er kritzelte ganze Schulhefte voll, je strenger der Unterricht, desto mehr zeichnete er», sagt Diana Widmer. Auch abends kann er jeweils erst ins Bett, wenn er sein Bild fertig gezeichnet hat.

Über 20 Anzeigen und 12’000 Franken Schulden. Wann genau Benjamin Widmer mit Sprayen anfängt, weiss seine Mutter nicht. Sie ist froh, als er beginnt, mit einem Freund mehr Zeit draussen zu verbringen, statt immer nur am Computer zu sitzen und zu programmieren. «Ich wusste ja nicht alles, was sie machten», sagt sie. Dass er sich filmte, während er seinen Künstlernamen als Tag an Wände schrieb und Graffiti sprayte, erfährt sie erst, als die Polizei ins Spiel kommt.

Über zwanzig Anzeigen sind es am Schluss und etwa 12’000 Franken Schulden wegen Sachbeschädigung. «Für Benjamin war es Kunst, aber die Wände, auf die er sprayte, gehörten ihm nun mal nicht», sagt Diana Widmer. Er weiss, dass es illegal ist, kann aber trotzdem nicht aufhören. «Er sagte in der letzten Nacht in den Sprachnachrichten, das Sprayen sei wie eine Sucht», erinnert sich Diana Widmer.

Sie vermutet, dass die Kombination von allem zum Suizid führte: die vielen Anzeigen, die Aussicht, ohne das Sprayen leben zu müssen, und die bevorstehende strenge Lehre. «Er war wie Peter Pan; er wollte nicht erwachsen werden. Er konnte sich ein so strenges Leben für sich nicht vorstellen; gerade weil er im Autismus-Spektrum war.

Er schrieb im Abschiedsbrief: Seine Visionen für seine Zukunft seien gross gewesen; aber er habe schnell gemerkt, dass mit seiner Sucht illegale Dinge zu tun das Ganze schwierig werden würde», sagt Diana Widmer gefasst.

Verein will legales Sprayen ermöglichen.
Benjamin Widmers Tod schockierte sein Umfeld. Sein Onkel Pascal Wapf gründete mit seinem Bruder und einem Cousin deshalb den Verein Junge Wandkunst. Der Verein mit Sitz in St.Gallen will Events organisieren, bei denen Jugendliche auf legale Weise das Sprayen üben können.

«In der Stadt gibt es die ‹Hall of Fame›, eine Wand auf der Kreuzbleiche, wo man legal sprayen darf. Aber da gibt es die Auflage, dass das neue Graffiti schöner sein muss als das, das übersprayt wird», sagt Pascal Wapf. «Mein Sohn wollte zuerst üben; er hätte sich nicht getraut, die Graffiti an der Hall of Fame zu übersprayen», sagt Diana Widmer. Er übte illegal an fremden Wänden.

Am 26. April organisiert der Verein den ersten Event. Er stellt Farbe und eine Wand zur Verfügung, an der man üben kann. «Ausserdem organisieren wir eine Virtual-Reality-Brille, mit der man virtuell einen Zug besprayen kann», sagt Wapf. Im Juni soll dann ein weisser Lieferwagen besprayt werden; dafür können sich junge Graffiti-Talente bewerben. Geplant sind zudem Workshops, bei denen Künstler den Jugendlichen Tipps geben. Bisher zählt der Verein rund vierzig Mitglieder; neue sind willkommen.

Wände mit dem Tag ihres Sohnes bleiben. Auch wenn Diana Widmer und ihr Mann traurig sind, akzeptieren sie den Entscheid ihres Sohnes. «Wir hätten nie von ihm verlangt, nur für uns weiterzuleben, obwohl er nicht glücklich gewesen wäre», sagt sie. Sie könne nachvollziehen, dass für ihn das Leben mit Autismus immer strenger wurde und er keinen Ausweg aus der Illegalität mehr sah.

«Natürlich haben wir uns zu Beginn gefragt, was wir anders hätten machen können, aber wir können es nicht ändern. Wir können seinen Entscheid verstehen.» Wenn Diana Widmer heute irgendwo unterwegs ist und eine Wand mit dem Tag ihres Sohnes sieht, dann fühlt es sich für sie an, als würde sie ihn wieder treffen. «Es tut gut, diese Orte zu besuchen. Ich weiss, er war auch hier und er war glücklich, als er sprayte.»